Typische Missverständnisse zu Achtsamkeit und was in Wahrheit dahinter steckt
Früher dachte ich, Achtsamkeit sei nur etwas für Mönche die in einem stillen Kloster auf einem Berg leben und den ganzen Tag meditieren. Doch durch meine Lehrerinnen und Lehrer habe ich gelernt, dass Achtsamkeit jederzeit, an jedem Ort und unter allen Lebensumständen praktiziert werden kann.
Obwohl Achtsamkeit in aller Munde ist, sind immer noch viele Missverständnisse und Mythen darüber verbreitet. Hier möchte ich sieben dieser Irrtümer aufdecken und ein paar Fakten dazu erläutern.
Mythos Nr. 1: Achtsamkeit und Meditation sind das Gleiche
Ein häufiges Missverständnis ist, dass Achtsamkeit und Meditation dasselbe sind oder dass Achtsamkeit nur durch Meditation praktiziert werden kann.
In der Achtsamkeitspraxis lernst du, im Hier und Jetzt zu sein, ganz präsent zu werden und bewusster wahrzunehmen, was im Moment gerade geschieht. Du übst, deine Gedanken wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten oder dich in ihnen zu verlieren.
Manchmal hilft es, sich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen, still zu werden und ganz bewusst den Fokus auf die Atmung und die innere Präsenz lenken. Wir können in dieser Praxis auch üben, die Gedanken und Gefühle kommen und gehen zu lassen und sie zu akzeptieren statt zu beurteilen. Diese Form der Meditation hilft als eine formale Praxis dabei, die Präsenz zu kultivieren und immer wieder die Aufmerksamkeit in den gegenwärtigen Moment zu lenken.
Achtsamkeit hingegen kann überall integriert werden: beim Essen, Sprechen, Arbeiten oder Gehen. Meditation hilft dir, diese Fähigkeit zu kultivieren, aber achtsam sein kannst du jederzeit und überall.
Achtsamkeit und Meditation sind daher wie Geschwister – sie passen gut zusammen, sind aber nicht das Gleiche.
Mythos Nr. 2: Achtsamkeit braucht viel Zeit
Die meisten Menschen glauben, dass es sehr viel Zeit braucht, um Achtsamkeit zu üben und dass es sich nicht lohnt, anzufangen zu praktizieren wenn sie keine 30 Minuten pro Tag übrig haben.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Es geht nicht unbedingt darum, stundenlang zu meditieren oder vor einer brennenden Kerze den Fokus zu üben, sondern vielmehr darum, regelmäßig kleine Momente der Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren.
Ein paar Beispiele, wie du Achtsamkeit in deinen Alltag integrieren kannst:
- Bei Wartezeiten am Bus, der Bahn oder in der Supermarktschlange: Fokus auf eine entspannte Atmung lenken und spüren, wie tief du gerade atmest und ob dein Brustraum sich weitet, während du ein- und ausatmest.
- Während du eine Mahlzeit herrichtest: Mit all deinen Sinnen die Lebensmittel betrachten und wahrnehmen welche Farbe sie haben, wie sie riechen, wie sie sich anfühlen. Vielleicht magst du auch einen Moment der Dankbarkeit den Menschen widmen, die dafür gesorgt haben, dass du diese Lebensmittel jetzt zubereiten kannst.
- Im Gespräch mit einer anderen Person: Richte deine Aufmerksamkeit auf die Worte und die Stimme deines Gegenüber und lass die Inhalte erstmal in dir nachklingen, bevor du etwas antwortest.
- Auf dem Weg nach Hause, zu einem Termin oder auf einem Spaziergang: Gehe bewusst langsamer gehen und spüre den Kontakt deiner Füße zum Boden.
Du siehst also, dass es ganz einfach ist, kleine achtsame Momente in deinen Tag zu integrieren. Das ist oft besser, als wenn du nur einmal in der Woche für eine längere Zeit meditierst.
Um ehrlich zu sein, finde ich es viel schwieriger und herausfordernder im Alltag bewusst und achtsam zu sein und den normalen Augenblicken mit Präsenz zu begegnen, als im stillen Kämmerlein auf meiner Matte zu sitzen und zu meditieren. Aber schon ein paar achtsame Minuten am Tag, einige bewusste Atemzüge oder Momente können einen großen Unterschied für die Balance im Leben machen und dabei helfen, mehr Ruhe im Trubel des Alltags zu finden.
“Mindfulness isn’t difficult, we just need to remember to do it.”
Sharon Salzberg
Mythos Nr. 3: Achtsamkeit bedeutet, den Kopf frei von Gedanken zu haben
Stell dir mal vor, wie das wäre, wenn dein Kopf keine Gedanken mehr hätte! Bei ca. 60.000 Gedanken die wir jeden Tag denken, dürfte das ziemlich schwierig sein. Und das ist auch gar nicht der Sinn einer Achtsamkeitspraxis.
Unser Gehirn ist dafür gebaut, ständig zwischen verschiedenen Gedanken hin und her zu wechseln, das ist seine Aufgabe. Häufig hüpft es jedoch herum wie ein Affe zwischen den Bäumen und verliert sich in diesem und in jenem und erzählt uns Geschichten darüber, wie die Welt sei.
Und das ist der Knackpunkt: Mit Hilfe von Achtsamkeit geht es uns in Wirklichkeit darum, präsent zu werden, die vielen Gedanken wahrzunehmen und zu beobachten, ohne sie zu bewerten oder sich in ihnen zu verlieren. Die Herausforderung ist dabei, eine bewusste Zuschauerhaltung einzunehmen und alle Gedanken kommen und gehen zu lassen, und dabei immer und immer und immer wieder in den Augenblick, den gegenwärtigen Moment zurückzukehren. So als ob du der Trainer für dein Mind bist und ihm immer wieder freundlich und liebevoll sagst: Komm zurück. Bleib hier. Renn nicht weg.
Und vielleicht gelingt es dir auch bewusst wahrzunehmen, welche Gedanken du häufig denkst. Sind es positive, unterstützende Gedanken, sind es viele Verurteilungen und Bewertungen dir selbst und anderen gegenüber oder sind es Geschichten, die du dir erzählst über die Welt um dich herum? Und wieviele von diesen ca. 60.000 Gedanken möchtest du wirklich denken, welche tun dir gut und welche entscheidest du dich in Zukunft weniger zu denken?
Wenn dich noch mehr zu Achtsamkeit in deinen Gedanken interessiert:
Mythos Nr. 4: Achtsamkeit ist immer entspannend und fühlt sich gut an
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass Achtsamkeit immer entspannend ist und man sich dann ruhiger und besser fühlt.
Sorry, not sorry. Klar wäre das ein tolles Versprechen, wenn es sich immer gut anfühlen würde und vermutlich würde es auch mehr Menschen zu Achtsamkeit führen.
Die Wahrheit ist, dass viele Menschen sich gerade wenn sie damit beginnen, bewusster und präsenter durch ihr Leben zu gehen, sich zunächst unwohler fühlen. Das liegt daran, dass wir durch ein klareres Wahrnehmen auch unsere innere Unruhe oder unseren Stress stärker wahrnehmen. Das kann durchaus unangenehm sein, wenn wir dann eine Situation oder unsere Gefühle nicht mehr übergehen oder wegdrücken, sondern wirklich im Moment sind und spüren was da ist. Dennoch ist genau das ein wichtiger Schritt, um langfristig besser mit diesen Gefühlen umgehen zu können. Eine regelmäßige Übung hilft dabei, die eigenen Reaktionen und Verhaltensmuster, die eigenen Gefühle und Emotionen zu erkennen und vielleicht auch zu verändern.
“When we get too caught up in the busyness of the world, we lose connection with one another – and ourselves.”
Jack Kornfield
Mythos Nr. 5: Achtsamkeit löst alle Probleme
Ein ähnlicher Irrtum ist, dass sich durch Achtsamkeit die Probleme, Sorgen und Ängste ganz schnell lösen und wir diese ‚weg‘ bekommen können.
Fakt ist, dass du genau so viele Sorgen und Nöte in deinem Leben haben, wie bisher auch. Der Unterschied, den du mit einer achtsamen Balance in deinem Leben erfahren wirst, ist dass es mit der Zeit einfacher wird den Herausforderungen zu begegnen. Du wirst resilienter und geduldiger.
Achtsamkeit hilft dir, eine neue Perspektive einzunehmen und gelassener zu reagieren. Es ist keine schnelle Lösung, die wie mit einem Zauberstab alles verändert, aber nach einigen Monaten wird es dir möglicherweise leichter gelingen, nicht in jede Sorge, jede Angst oder jedes Problem welches dir begegnet, einzutauchen. Es wird dir leichter fallen, einen innerlichen Abstand zu den Situationen halten, die dich herausfordern und das wird vieles verändern, weil du dann auch nicht mehr so reaktiv bist, sondern aus einer sicheren Distanz heraus die Dinge betrachten kannst und es viel leichter wird, Auswege, Lösungen und neue Perpektiven zu finden.
Das ist für mich persönlich die wahre Superkraft, die wir durch Achtsamkeit erhalten. Ich erinnere mich an eine Zeit in meinem Leben, die vor allem beruflich aber gleichzeitig auch in meinem sozialen Umfeld extrem herausfordernd war. Es ging mir gesundheitlich gut, aber in diesen Kontexten kämpfte ich wirklich ums Überleben.
In dieser Zeit hatte ich eine tägliche Praxis der Metta-Meditation begonnen, die ich von meinem Lehrer Biff Mithoefer gelernt habe. Ich praktizierte diese Meditation über mehrere Monate jeden Abend für ca. 15 Minuten. Rückblickend bin ich überzeugt, dass mich diese regelmäßige und kontinuierliche Praxis ‚am Leben‘ gehalten hat. Oft war es der einzige Moment am Tag, den ich in Ruhe und für mich verbringen konnte. Manchmal war ich zum umfallen müde und bin schon halb eingeschlafen dabei, aber ich wusste, ich brauche diese Momente, um bei Sinnen zu bleiben und meinen Kopf jeden Tag wieder klar zu bekommen.
Ressourcen zu Metta-Meditation
Mythos Nr. 6: Achtsamkeit kann nur im Sitzen praktiziert werden
Vielleicht hast du bis heute noch gedacht, dass man für eine Achtsamkeitspraxis in einem ruhigen Raum im Schneidersitz auf dem Boden sitzen muss. Das ist ja auch die Körperhaltung, in welcher z.B. Buddha auf Bildern oder als Figur häufig dargestellt wird.
Inzwischen weißt du schon, dass Achtsamkeit immer und überall praktiziert werden kann, in jeder Position und Situation, im Sitzen, Stehen, Gehen oder sogar Liegen (wobei letzteres oft zu Schläfrigkeit führt). Wenn du aber für deine formale Achtsamkeitspraxis oder eine Meditation eine gute Haltung suchst, dann finde eine Position, die eine gute Balance zwischen Bequemlichkeit und Wachsamkeit ermöglicht, die für dich persönlich am besten funktioniert. Das kann z.B. im Sitzen auf einem Stuhl sein. Hilfreich ist dabei, wenn du auf der vorderen Kante der Sitzfläche sitzt, sodass deine Füße flach auf dem Boden stehen, dein Rücken nicht anlehnt, sondern frei ist und es dir leicht fällt, tief zu atmen. Deine Haltung kann auch auf einem Kissen am Boden sitzend sein, welches dir ermöglicht, deine Beine in einer lockeren, gekreuzten Haltung vor dir ruhen zu lassen.
Im Yogasutra von Patanjali wird in Abschnitt 2.46 die Haltung beschrieben mit “sthira-sukham asanam”. Das bedeutet im übertragenen Sinn, die Haltung soll gleichzeitig stabil und bequem sein. Es beschreibt die Balance zwischen Anstrengung und Leichtigkeit.
- Sthira bedeutet dabei stabil, stark und unbeweglich. Es kommt von dem Wortstamm stha, was ’stehen, fest zu sein‘ bedeutet.
- Sukha bedeutet bequem, mit Leichtigkeit und Offenheit und die wörtliche Bedeutung ist ‚guter Platz‘ von den Wortwurzeln su (gut) und kha (Platz).
Die Beschreibung dieser Haltung bezieht sich zwar auf die Praxis von Yoga, kann aber ebensogut auf die Haltung im Leben übertragen werden. Wenn du einen stabilen und bequemen Platz in deinem Leben hast, dann geht es dir gut. Du kannst mit dem Trubel des Alltags gut umgehen und lässt dich nicht so leicht umwerfen, bist aber dennoch beweglich und flexibel, wenn es nötig ist.
Mythos Nr. 7: Achtsamkeit ist nur etwas für entspannte Menschen
Viele glauben, dass Achtsamkeit nur etwas für ruhige und gelassene Menschen ist, die immer positiv gestimmt sind. Das Gegenteil ist wahr, denn gerade dann, wenn du innerlich unruhig bist oder stressige Zeiten erlebst, kann Achtsamkeit dir helfen, gelassener zu werden und besser mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen. Achtsamkeit hilft dir dabei, deine Gedanken klarer wahrzunehmen und zu entscheiden, ob du dich in stressigen und negativen Gedanken verfangen möchtest oder sie einfach nur beobachtest, ohne dich von ihnen überwältigen zu lassen.
Es kann passieren, dass wir uns angewöhnt haben, uns selbst Stress zu machen. Wie unpraktisch, oder?
Ich konnte eine Zeit lang bei mir selbst beobachten, dass ich auf viele Dinge gestresst und genervt reagiere. Da hat mir persönlich der folgende Satz geholfen, den ich mir regelmäßig vorgesagt habe: „Ich könnte mich jetzt darüber aufregen, muss es aber nicht.“ Das hat mir so viel Freiheit gegeben, mich anders zu entscheiden, z.B. für die Gedanken, die es mir leichter machen mit einer Situation umzugehen, die mir innerlich Entspannung und Ruhe gegeben haben. Probier es mal aus, vielleicht klappt das bei dir auch?
Noch mehr Mythen über Achtsamkeit
Es gibt noch viele andere Mythen über Achtsamkeit, die ich in diesem Beitrag nicht näher beleuchtet habe, aber ein paar davon noch erwähnen möchte:
- Achtsamkeit ist eine religiöse Praxis
- Achtsamkeit ist eine Flucht vor der Realität und nur für Menschen ohne ernsthafte Probleme
- Achtsamkeit hat ein Ziel
- Es braucht jahrelange Übung um Achtsamkeit richtig zu praktizieren
- Achtsamkeit ist eine egoistische Praxis
- Du musst ein Yogi sein (oder dich zumindest vegan ernähren 🙂 um Achtsamkeit zu praktizieren
- Achtsamkeitslehrende sind immer achtsam
Interessieren dich diese Mythen auch? Dann hinterlasse mir gerne einen Kommentar unter den Beitrag, vielleicht schreibe ich einen zweiten Teil. 🙂
Was mir noch am Herzen liegt: Achtsamkeit ist ein ganz wunderbares und wertvolles Werkzeug, welches jeder von uns in seinem Alltag nutzen kann und sollte. Aber es geht dabei nicht darum, perfekt zu werden, alle Probleme im Leben damit zu lösen oder ein Ziel zu erreichen. Vielmehr unterstützt dich die Mindfulness-Praxis darin, präsent zu sein für all die schönen und auch herausfordernden Dinge im Leben. Achtsamkeit hilft dir, den ganz normalen Alltag bewusst wahrzunehmen und fühlend im Hier und Jetzt zu sein, ohne es verändern zu wollen.
Das ist ein langer Weg, zu dem es keine Abkürzungen gibt. Beginne also mit kleinen Schritten und integriere diese Praxis nach und nach in deinen Alltag, dann wirst dz sehen, wie sich dein Leben positiv verändert.
Zum Abschluss teile ich einen meiner Lieblingstexte vom Dalai Lama mit dir:
“Every day, think as you wake up, today I am fortunate to be alive, I have a precious human life, I am not going to waste it. I am going to use all my energies to develop myself, to expand my heart out to others; to achieve enlightenment for the benefit of all beings. I am going to have kind thoughts towards others, I am not going to get angry or think badly about others. I am going to benefit others as much as I can.”
Dalai Lama
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